Ein Lawinenunfall betrifft in den meisten Fällen Skifahrer und Snowboarder in freiem Gelände, wobei - wohl aus psychologischen Gründen - mehr erfahrene als unerfahrene Skialpinisten daran beteiligt sind. Eine Lawinenverschüttung ist einer der gefährlichsten alpinen Unfälle, da die Sterberate aller Lawinenunfälle fast 25%, bei einer Ganzverschüttung sogar über 50% beträgt! Insgesamt sterben bei Lawinenunfällen pro Jahr ca. 150 Personen in Europa und Nordamerika. In einer Lawine besteht immer eine hohe Lebensgefahr! Ein gewisser Prozentsatz der Verschütteten stirbt durch mechanische Verletzungen (ca. 25% der Fälle, meist innerhalb der ersten Minuten). Danach sinken die Überlebenschancen infolge Erstickungsgefahr sehr rasch (70% der Todesfälle).
Eine "Ganzverschüttung" liegt vor, wenn mindestens Kopf und Oberkörper durch Lawinenschnee verschüttet sind. Je größer die Verschüttungstiefe ist (durchschnittlich ein Meter), desto geringer ist die Überlebenschance.
Eine Interpretation der durchschnittlichen Überlebenskurve nach einer Ganzverschüttung ergibt folgendes Bild (nach Durrer, Jaconet, Wiget):
Es handelt sich also immer um einen Wettlauf mit der Zeit, bei dem es in jedem Fall auf die ersten 15 Minuten ankommt. Deshalb ist unbedingt perfektes Beherrschen der Suchmethoden durch regelmäßige Übung nötig!
Merke: Nur die Kameradenhilfe kann die Überlebenschance beim Lawinenunfall verbessern. Am wichtigsten ist aber das Vermeiden eines Lawinenunfalls!
Lawinenopfer:
Helfer / Retter:
Erste Hilfe bei Verschüttungsdauer unter 35 Minuten:
Erste Hilfe bei Verschüttungsdauer über 35 Minuten:
Neben mechanischen Verletzungen oder Ersticken im Schnee spielt bei Lawinenunglücken die Unterkühlung eine wichtige Rolle. Sie tritt allerdings erst nach längerer Verschüttungsdauer ein und beträgt 5% der Todesfälle (siehe Kapitel Kälteschäden). Bei funktionsgerechter Kleidung rechnet man mit einer durchschnittlichen Abnahme der Körpertemperatur von drei Grad Celsius pro Stunde. D.h. bei einer Verschüttungsdauer unter einer Stunde besteht in der Regel nur eine leichte Unterkühlung, darüber muss jedoch mit schweren Kälteschäden gerechnet werden.
Verschüttete, die schon nach kurzer Zeit und bei klarem Bewusstsein ausgegraben werden, bieten in der Regel keine besonderen Probleme. Verletzte, die abtransportiert werden müssen, sollten sofort mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen Kälte isoliert werden, um die gefährlich schnelle Auskühlung außerhalb der Lawine (ca. sechs Grad Celsius pro Stunde) zu verhindern (v.a. bei Bewußtlosigkeit, tiefen Außentemperaturen und Wind).
Besonders kritisch ist die Beurteilung von Lawinenopfern mit Atemhöhlen, die nach längerer Zeit leblos ausgegraben und geborgen werden. Bei diesen ergibt sich für den Retter zusätzlich die große Schwierigkeit, im Gelände zwischen schwerster allgemeiner Unterkühlung und Tod durch Ersticken zu unterscheiden. Der Verletzte kann so schwer unterkühlt sein, dass Atmung und Herzschlag ohne Hilfsmittel nicht mehr festgestellt werden können (Scheintod), aber dennoch ein Minimalkreislauf existiert, der den durch Kälte erheblich reduzierten Sauerstoffbedarf des Gehirns gerade (noch) deckt. Deshalb sollte auch weiterhin der Lehrsatz gelten, dass in Zweifelsfällen der Tod erst nach Wiedererwärmung festgestellt werden darf.
Merke: "Ein unterkühlter Lawinenverschütteter mit Atemhöhle ist solange nicht tot, bis er wiedererwärmt und tot ist!"
Umgekehrt ist ein kaltes, ganz langsam schlagendes Herz gegen mechanische Reize durch aggressive Herzdruckmassage sehr empfindlich, was eventuell zu einem gefährlichen Kammerflimmern führen kann. Die Entscheidung, ob eine Herzdruckmassage erforderlich ist oder nicht, ist vor Ort für den Laien wie auch für den Fachmann sehr schwierig zu treffen. Deshalb sollte in diesem Falle eine Herzdruckmassage am besten nur dann angewendet werden, wenn sie beherrscht wird und eine möglichst ununterbrochene Fortführung machbar erscheint. Dabei ist eine Frequenz von 30 Mal pro Minute, d.h. also etwa halbe Herzschlaggeschwindigkeit ausreichend. In jedem Fall ist auch beim Scheintod-Unterkühlten das Anlegen einer Hibler-Wärmepackung von großer Bedeutung. Am besten ist natürlich ein schnellstmöglicher Hubschraubertransport in eine Klinik mit Intensivstation bzw. Herz-Lungen-Maschine zur Wiedererwärmung bei Kreislaufstillstand.
Erste Hilfe und Gesundheit am Berg und auf Reisen
Alpine Lehrschrift von Dr. Walter Treibel
Bergverlag Rother München, 2. Auflage, 2011