Wenn wir das Bergsteigen im Hinblick auf die Unfallverhütung psychologisch analysieren wollen, müssen wir uns zwangsläufig über die Beweggründe unseres eigenen Tuns im Klaren sein.
Nach Ulrich Aufmuth können ganz unterschiedliche Gründe zum Bergsteigen führen:
Bei Bergsteigern, die aus Freude am Naturerleben, also „um der Berge selbst willen“, ins Gebirge gehen, ist das psychologische Gefahrenpotential relativ gering. Bei anderen, für die „Bergsteigen als Mittel zum Zweck“ dient, bestehen größere Gefährdungen.
Die Beweggründe für das Bergsteigen sind also ziemlich komplex und so unterschiedlich wie die jeweiligen Personen samt ihren Veranlagungen, Neigungen und Reaktionen. Deshalb lassen sich zur effektiven Unfallprophylaxe, zur besseren Kommunikation untereinander und für einen ausgewogenen Umgang mit der eigenen Person leider keine allgemeingültigen Regeln aufstellen. Jeder muss zur Verbesserung seiner Fähigkeiten und Erfahrungen zunächst an sich selbst arbeiten -das gilt für Technik und Kondition genauso wie für medizinische oder psychologische Kenntnisse.
Bergsteiger bewegen sich oft in gefahrvoller Umgebung und sind vielfach auch ganz auf sich alleine gestellt. Dies erfordert und fördert ein starkes Selbstbewusstsein sowie eine ausgeglichene, stabile psychische Grundstruktur. Hierzu gehört in der Regel auch ein starker Überlebenswille und die Fähigkeit, auf unerwartete und bedrohliche Situationen ohne Angst oder Panik adäquat zu reagieren.
Bei einer Unterschätzung der eigenen Fähigkeiten kann zum Glück nicht allzuviel passieren: ein „Zauderer“ wird nur bei optimalen Verhältnissen starten. Eine realistische Selbsteinschätzung mit einer gewissen Flexibilität ist - wie immer im Leben - von Vorteil. Am gefährlichsten sind jedoch Selbstüberschätzung und zu großer Ehrgeiz, mit dem sich die Betroffenen selbst und auch noch andere in Gefahr bringen können.
Bergsteigen konfrontiert den Menschen auf deutliche Weise mit sich selbst und seinen Kameraden. Besonders schwierig zu erfüllen sind die oft zu hohen Erwartungen an den Bergführer oder Tourenleiter, den Partner oder auch an die eigene Person. Alle Bergsteiger -also auch wir selbst -sollten möglichst kompetent sein durch große Erfahrung sowie Leistungsstärke (konditionell und technisch), Hilfsbereitschaft und Kooperationsfähigkeit (Einbeziehung des Partners oder der Gruppe in Entscheidungsprozesse). Bergführer und Tourenleiter sollen gute Lehrereigenschaften zur Wissensvermittlung besitzen. Sie sollen ausgleichend und integrativ wirken (als „Psychologe" bei Spannungen) und ein besonderes Einfühlungsvermögen mit guter Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis besitzen, da die menschlichen Qualitäten im Gebirge oft entscheidend sind.
Alle diese idealen Eigenschaften sind aber in der Realität nur selten erreichbar -und genau deswegen gibt es im Gebirge durch die Abgeschiedenheit und die z.T. extremen Situationen auch leicht einmal Spannungen und psychologische Probleme.
Zur Verbesserung der eigenen Fähigkeiten und Erfahrungen sollte man sich generell nach einer Tour immer selbst fragen:
Merke:„Was hätte ich vielleicht anders und besser machen können?“
Diese Punkte (nach Aufmuth) gelten besonders für die verantwortlichen Tourenleiter (egal ob private oder kommerziell organisierte Touren), können aber auch das Verhältnis von gleichstarken Partnern untereinander betreffen. Abgesehen vom alpinen Bereich gelten diese Regeln aber auch sonst bei Gruppen im Berufs- und Alltagsleben!
Bei einem echten Notfall ist es entscheidend, zunächst Ruhe zu bewahren! Das ist natürlich leichter gesagt als getan, kann jedoch trainiert werden. Neben der Lektüre eines Erste-Hilfe-Buches und dem Einüben von Rettungsmaßnahmen in entsprechenden Kursenist auch ein rein geistiges Training für den Ernstfall sehr hilfreich. Wenn Sie zwischendurch etwas Zeit übrig haben, z.B. bei Wartezeiten, bei Zugfahrten oder wenn Sie nicht einschlafen können, dann stellen Sie sich einfach eine alpine, medizinische Notfallsituation vor und überlegen sich rein theoretisch, wie und in welcher Reihenfolge Sie alleine oder in einer Gruppe darauf reagieren würden. Wenn Sie dies intensiv durchspielen und immer mal wiederholen, sind Sie bei einem echten Einsatz schon viel besser vorbereitet, da Ihr Vorgehen strukturierter und kontrollierter sein wird. Mit der daraus resultierenden Sicherheit und einem beruhigenden Einwirken auf den Verletzten können Sie dessen Zustand schon allein durch diese wichtige psychologische Unterstützung verbessern und Schmerzen lindern.
Bei Unfällen werden von den Rettern oft großartige Leistungen vollbracht. Trotzdem kann ein falsches Heldentum mit übertriebenem Risiko fatal sein, wenn dadurch die eigene Gesundheit (und damit auch die Chancen des Verletzten) stark gefährdet werden. Auch wenn es vielleicht nicht auf den ersten Blick einleuchtet, muss zuerst an die Sicherheit der Helfer, dann an die Sicherheit der unverletzten Bergsteiger und schließlich an die Rettung der Verunglückten gedacht werden.
Besonders schwierig wird es, wenn bei einem größeren Unglück (Verkehrsunfall, Absturz oder Verletzungen von mehreren Gruppenmitgliedern) viele Personen z.T. schwer verletzt werden, aber nur sehr wenige (unverletzte) Helfer zur Verfügung stehen und keine schnelle professionelle Hilfe zu erwarten ist. Normalerweise kümmert man sich zuerst um die am schwersten Verletzten - in diesem speziellen Fall gilt dies jedoch ausnahmsweise nicht mehr!
Es macht keinen Sinn, alle Energien mit einem einzigen Schwerstverletzten zu vergeuden, wenn sich gleichzeitig bei mehreren anderen Verletzten der Zustand ohne Sofortmaßnahmen immer weiter verschlechtern würde. Es ist für die Gesamtheit der Verletzten deshalb besser, hier zunächst eine grobe Einteilung nach drei Schweregraden der Verletzungen zu treffen (sogenannte Triage) und entsprechend zu handeln.
Leichtverletzte Personen (z.B. mit einem Knochenbruch und ansprechbar) werden vorerst nicht versorgt. Hier kann mit der Ersten Hilfe ohne besondere Gefahren gewartet werden
Schwerstverletzte mit multiplen Verletzungen und Atem- bzw. Kreislaufstillstand werden ebenfalls nicht am Anfang versorgt, da sie insgesamt eine deutlich geringere Überlebenschance haben
Die wenigen Helfer sollten sich also auf die Unfallopfer mit mittleren Verletzungen konzentrieren (also ohne Atem- und Kreislaufstillstand), da hier die Erfolgsaussichten zur Rettung viel größer sind. Hierunter fallen z.B. Stillen einer starken Blutung, Behandlung eines schweren Schocks mit Hilfe der Schocklage, Freimachen der Atemwege oder stabile Seitenlage bei einem Bewusstlosen
Erst wenn diese wichtigen Maßnahmen getroffen sind, sollte man sich dann im zweiten Anlauf um die Schwerstverletzten kümmern. Deren Chancen sind deutlich höher, wenn sie die erste besonders kritische Zeit nach dem Unfall auch ohne Erste-Hilfe-Maßnahmen überlebt haben
Diese schwierige Triage ist wichtig, aber psychologisch eine sehr große Belastung für die Helfer und wurde deshalb absichtlich in dieses Kapitel mit aufgenommen.
Emotionale Stressfaktoren beim Bergsteigen können sein:
Angst beim Bergsteigen ist ein natürlicher Schutzmechanismus, denn „Wer zu viel Mut hat, lebt nicht lange!“. Angst wird aber dann problematisch, wenn sie (z.B. durch Überlastung) nicht wahrgenommen bzw. verdrängt oder bewußt überspielt wird. Durch Wechselwirkungen kann als Folge davon die Angst bis zur Panikreaktion eskalieren. Dabei ist eine Kontrolle der Angst und ein zielgerichtetes Verhalten nicht mehr möglich und die kritische Situation kann nicht bewältigt werden.
Psychische Überlastungen kommen vor allem dann vor, wenn ein Mensch überraschend und ohne Vorbereitungsmöglichkeit mit einer extremen Situation konfrontiert wird, z.B. als Opfer, aber auch als Freund oder Angehöriger von Verletzten oder gar Unfalltoten. Dabei kann es zu völliger Hilflosigkeit, intensiver Angst, lähmendem Entsetzen, Chaos oder Orientierungslosigkeit kommen. Als unmittelbare Folge davon entwickeln sich oft Gefühllosigkeit (fehlende emotionale Reaktion), eine Wahrnehmungsminderung (bis hin zu dem Gefühl, alles passiere nur im Traum oder wie in einem Film) oder Gedächtnislücken.
Später können auch andere (normale) Reaktionen auftreten, z.B. Vermeidungsverhalten gegenüber allen Erinnerungen, die mit dem Unfall zu tun haben. Aber auch Reizbarkeit, Unruhe, Überempfindlichkeit, Schlafstörungen (Alpträume), Konzentrationsstörungen oder gar Schuldgefühle (z.B. nach Lawinenunfällen). Diese normalen Reaktionen auf ein psychisch sehr belastendes Ereignis können einige Tage bis Wochen anhalten, manchmal sogar Monate.
Die folgenden psychischen Erste-Hilfe-Maßnahmen beziehen sich sowohl auf Unfallopfer wie auch auf betroffene Gefährten oder Angehörige.
Bei Unfällen kommt es neben einer körperlichen Schädigung häufig auch zu einer Beeinträchtigung der geistigen Leistungsfähigkeit und der psychischen Stabilität. Deshalb ist bei vielen Verletzungen und Erkrankungen die psychologische Betreuung des Patienten oft genauso wichtig wie die Erste-Hilfe-Maßnahmen, vor allem dann, wenn der Verletzte oder Erkrankte starke Schmerzen oder Ängste hat, der Unfallausgang ungewiss ist oder der Laienhelfer aus Mangel an Erfahrung oder Hilfsmaterialien nicht viel helfen kann. Mit einer guten psychologischen Betreuung können Schmerzen und sogar Schockauswirkungen reduziert werden. Dabei ist der gesunde Menschenverstand und ein Einfühlungsvermögen in die Ängste und Sorgen des Patienten oft wertvoller als theoretisches Wissen über Therapie-Maßnahmen. Ziel der psychischen Ersten Hilfe ist eine emotionale Stabilisierung in der akuten Notfallsituation.
Dies kann bei größeren Unfällen (wie Lawinenverschüttungen oder Todesfällen) durch psychologisch geschulte Personen durchgeführt werden (Krisen-Interventionsteam, meist Bergretter, Seelsorger usw.). Zunächst aber sollte diese psychische Hilfe nach Möglichkeit durch die anwesenden Gruppenmitglieder oder Helfer begonnen werden. Am besten kümmert sich jeweils eine Kontaktperson psychologisch um den Verletzten (wobei dies in der Regel nicht der Einsatzleiter oder Koordinator ist!). Dieser Betreuer soll Ansprechpartner des Patienten sein und ihm Informationen und Zuversicht vermitteln. Damit die psychologische Erste-Hilfe-Betreuung auch funktioniert und beim Patienten ankommt, muss sie von Herzen kommen, denn nichts ist schlimmer als leere Phrasen, aufgesetztes Mitleid oder durchschaubare Lügen wie „Es ist nicht schlimm, alles wird wieder gut - Du brauchst keine Angst haben!“ Der Helfer muss seine ganze Persönlichkeit einbringen, echte Nähe und Zuwendung zeigen und es tatsächlich auch so meinen, wie er es sagt, um glaubhaft (authentisch) zu sein. Das Verständnis für die Situation des Verletzten und seine Schmerzen trägt dazu bei, sein Vertrauen zu gewinnen und ihn zu beruhigen.
Am Unfallort zur eigenen Orientierung zunächst kurz und professionell fragen: „Was ist passiert?“. Je nach Reaktion muss dann auf die individuelle Situation eingegangen werden
Mit dem Betroffenen (Verletzter, Erkrankter) persönlichen Kontakt aufnehmen, ihn nach seinem Namen fragen und ihn auch mit Namen anreden (persönliche Ebene)
Ebenso sollte man sich natürlich selbst vorstellen sowie mit dem Betroffenen ein Gespräch anfangen und ihm erklären, was gemacht werden muß, insbesondere um ihm die quälende Ungewißheit über den weiteren Verlauf der Rettung zu nehmen
Auf Fragen möglichst konkrete Antworten geben, jedoch ohne zu dramatisieren
Wenn Sie etwas nicht wissen, ist es am besten, dies auch zuzugeben
Keine unrealistischen Versprechungenmachen, insbesondere keine großen Notlügen auftischen
Leichte Schönfärberei kann dagegen therapeutisch durchaus sinnvoll sein
Keine Vorwürfe zum Unfallhergang machen, d.h.keine moralischen Wertungen treffen wie „Wie konnte das nur passieren?“
Keine Aussagen über eventuelle Folgen der Verletzungen machen,
Im Beisein von Verletzten sollte nicht mit anderen über den Unfall und die möglichen schlimmen Folgen diskutiert werden, denn selbst scheinbar Bewusstlose können dies mitbekommen und durch falsche Formulierungen ziemlichen Schaden erleiden
Oft reicht es völlig aus, aufmerksam zuzuhören und gelegentlich Zwischenfragen zu stellen, also einen psychisch Schockierten ausreden lassen, damit er sich wieder zu sich selbst zurückfindet
Bei einem verwirrten Patienten versuchen, diesem durch einfache Erklärungen eine Orientierung zu vermitteln, damit er dann mit der neuen Situation wieder leichter zurechtkommen kann
Es hilft oft, einfache körperliche Grundbedürfnisse zu befriedigen, z.B. warme Kleidung oder warme Getränke anzubieten, aber keinen Alkohol, da er labile Personen destabilisieren kann
Je nach Situation empfiehlt es sich auch, evtl. körperlichen Kontakt aufzunehmen wie Hand halten oder den Arm um die Schulter des Verletzten legen, was oft mehr hilft als viele Worte
Genauso wichtig kann es sein, einen nur leicht verletzten Patienten zu beschäftigen, um ihn von seinem eigenen Leid abzulenken; dazu gehören z.B. kleine Aufgaben wie Material zu sortieren oder andere Verletzte zu betreuen
Damit der psychisch Angeschlagene zu seiner Handlungsfähigkeit zurückfindet, sollte man keine fertigen Lösungen anbieten, sondern diese gemeinsam mit ihm erarbeiten
Die psychische Betreuung muß kontinuierlich sein, besonders Kinder dürfen nie allein gelassen werden
Auch das Zusammenführen von Familienangehörigen und Freunden bewirkt trotz etwaiger Verletzungen eine psychische Stabilisierung
Gruppen sollten zusammen bleiben und nur in Ausnahmefällen (z.B. Hubschraubertransport) getrennt werden
Erste Hilfe und Gesundheit am Berg und auf Reisen
Alpine Lehrschrift von Dr. Walter Treibel
Bergverlag Rother München, 2. Auflage, 2011