Neuseeland 1999-2000
Die Jahrtausendwende steht bevor: soll man sie feiern oder ignorieren, eine große Party mit Freunden bzw. Verwandten machen oder sich einen ganz kleinen Kreis aussuchen, gar nichts oder eine besondere Reise planen? Ich entscheide mich für den kleinsten Kreis und die Reise: so fliege ich allein nach Neuseeland, ans andere Ende der Welt, wo ich als Bergsteiger und Naturliebhaber schon immer hinwollte. Vor einigen Jahren hätte ich dort sogar ein Stellenangebot als Assistenzarzt gehabt, aber das war mir für den Zeitraum von einem halben oder ganzen Jahr dann doch zu weit abseits.
Kurz vor Weihnachten geht es los. Wegen des langen Fluges immer ostwärts mit Umsteigen im australischen Melbourne komme ich erst zwei Tage nach meinem Abflug in der Hauptstadt Auckland auf der Nordinsel an. Dort fahre ich mit einem gemieteten kleinen Wohnmobil weiter und besuche zuerst eine deutschstämmige Patientin aus meiner Praxis, die mich schon lange zu sich eingeladen hat. Sie wohnt in einem schönen Haus oberhalb des Meeres und pendelt zwischen den beiden Ländern hin und her.
Der bekannte Künstler Hundertwasser war auch neuseeländischer Staatsbürger und hat ausgerechnet in dieser Ortschaft sein letztes Werk vollendet, nämlich eine sehr bunte öffentliche Toilette. Als ich sie mir anschauen wollte, war sie noch gar nicht ganz fertig und abgeschlossen. Meine Versuche, dieses Bauwerk von außen oder durch Fenster zu fotografieren, erregten Mitleid und ein freundlicher Mann sperrte sie mir extra auf, sodass ich sogar in der Damentoilette Bilder schießen konnte.
Dann ging es wieder zur Hauptstadt zurück und weiter ins Landesinnere nach Rotorura: hier gibt es verschiedene vulkanische Aktivitäten zu sehen wie Geysire, heiße Quellen, ehemalige Vulkane oder moderne Geothermie-Anlagen. Aber man bekommt auch einen Eindruck von der Kultur seiner Ureinwohner, den Maori, die hier einen besseren autonomen Status als die vergleichbaren Aborigines von Australien erreicht haben. Sie haben ihre eigene (Amts-) Sprache und arbeiten zum Teil als Holzschnitzer. Für die Touristen gibt es auch kulturelle Aufführungen mit Gesang und Tanz.
Im Tongariro-Nationalpark gibt es nicht nur einige Vulkane, sondern auch die Möglichkeit, eine interessante Gebietsüberschreitung durchzuführen, das sogenannte Tongariro-Crossing. Mit einem Touristenbus fährt man zum Ausgangspunkt der Wanderung, dann gehen alle Insassen auf eigene Faust auf den mehrstündigen Bergweg. Ich nehme bei dieser Gelegenheit als Einziger gleich noch den höchsten Vulkangipfel mit. Am späten Nachmittag treffen sich alle wieder am vereinbarten Zielpunkt und fahren mit dem Bus zurück – eine gelungener Tagesausflug!
Im Süden der Insel liegt die Stadt Wellington, der Ausgangshafen für die Fähr-Überfahrt zur gebirgigen Südinsel. In der Tasman Bay mache ich einen ähnlichen Ausflug: man fährt mit einem kleinen Ausflugsboot entlang der Küste und steigt dann für die Wanderung zurück aus. Wichtig sind hier die Gezeiten, denn man muss bei dieser Wanderung einige Buchten im Meer durchqueren, was nur bei Ebbe, aber nicht bei maximaler Flut funktioniert. Nach einem ziemlichen Gewaltmarsch bin ich wieder bei meinem Wohnmobil und fahre an der sehr regenreichen Küste weiter.
Bei der Nachtplatzsuche am Meeresstrand bleibe ich mit meinem Wohnmobil stecken. Da ich aber am nächsten Morgen eine spezielle Raftingtour machen wollte, versuche ich mit allen Mittel noch in der Nacht wieder freizukommen. Als Schaufel habe nur einen ein Plastikeimer und zum Unterlegen unter die eingesunkenen Räder montiere ich die Holzplatte der Sitz- und Schlafbank ab. Nach stundenlanger Arbeit gelingt es mir, den Wagen wieder flott zu bekommen – nur die Holzplatte hat unter dem Polster unübersehbar Reifenspuren abbekommen.
Ich komme rechtzeitig zum Start, wo wir mit Neoprenanzügen, Helmen und Taschenlampen ausgerüstet werden. sowie zusätzlich mit großen Gummireifen von LKWs. Wir laufen zunächst in einer kleinen Gruppe in den Urwald hinein, dann geht es weiter in eine große Höhle, bis wir einen unterirdischen Fluss erreichen. Alle Gruppenmitglieder setzen sich jetzt in ihre Gummireifen und halten sich an der Hand, sodass eine große Kette entsteht. Ohne Taschenlampenlicht zieht uns der Führer im Stockdunkeln in den Fluss, wo wir im leichten Strom weitertreiben. Plötzlich leuchten an der Höhlendecke Zehntausende von Glühwürmchen und es sieht aus wie ein Blick in einen sternenübersäten Himmel – ein geradezu unwirkliches Erlebnis! Als der Fluss wieder aus der Höhle austritt können wir bis zum Startpunkt wieder einzeln die Stromschnellen hinunterschippern – ein Riesenspaß! Für dieses „Underworld-Rafting“ hat es sich gelohnt, die halbe Nacht durchzuarbeiten.
Die Westseite der Südinsel ist sehr regenreich, weshalb sie auch „Grüne Insel“ genannt wird. Inzwischen ist der Dezember zu Ende – und ich feiere den Jahrtausendwechsel mit einem jungen neuseeländischen Tramperpaar, die ich unterwegs aufgesammelt habe. Bei regnerischem Wetter sitzen wir vor einem eher mickrigen Lagerfeuer und versuchen Marsh Mallows zu braten.
Der folgende Fox-Glacier ist – im Gegensatz zu mir - für die Einheimischen und meisten Touristen etwas Besonderes. Dafür faszinieren mich die frechen Kakadus, denen die Gummileisten an den Autos zu schmecken scheinen. Im berühmten Milford Sound, in den auch Kreuzschiffe hineinfahren, mache ich einen Segelboot-Ausflug bei gutem Wetter. Beim nächsten Trekking mit einer Biwak-Übernachtung regnet es dafür fast die ganze Zeit, bis auch irgendwann meine Regenkleidung überfordert ist.
Als letzten Programmpunkt fahre ich zum Mt. Cook, dem höchsten Berg des Landes in den neuseeländischen Alpen. Ein fast 4000 m hoher stark vergletscherter Berg, der von den Einheimischen Aoraki genannt wird. Vorsichtshalber habe ich meine gesamte Bergsteigerausrüstung für Hochtouren mitgenommen, auch wenn ich nicht wusste, ob ich alleine überhaupt eine Chance habe, hier etwas auszurichten. Das erste Problem ist schon mal, überhaupt in die Nähe des Berges zu kommen. Der Normalaufstieg bis zur unbewirtschafteten Hütte dauert etwa 8 Stunden und führt über einen sehr spaltenreichen und gefährlichen Gletscher. Deshalb fliegen die meisten Gipfelaspiranten mit kleinen Charterflugzeugen zum Gletscherlandeplatz vor dem Stützpunkt. Dieser Flug ist allerdings längst ausgebucht – und ich habe noch genau vier Tage bis zum Rückflug. Du hast keine Chance, aber nutze sie! Vor dem Abflug finde ich mich deshalb mit gepacktem Rucksack ein – und da ein Passagier nicht erschienen ist, kann ich unerwarteterweise mitfliegen.
Um zum Wandfuß des Berges zu kommen, geht es wieder über gefährliche Spalten, sodass ich mich dankenswerterweise in das Seil eines neuseeländischen Ehepaares einbinden kann. Wir stehen genau um Mitternacht auf, starten eine Stunde später bei völliger Dunkelheit und sind noch vor Sonnenaufgang am Wandfuß.
Ich habe mir den Zurbriggengrat herausgesucht, der nach dem bekannten Schweizer Führer benannt ist, der über diesen Weg den Gipfel 1895 solo bestiegen hatte. Es ist ein kombinierter Fels- und Eisgrat, der sich zum Schluss mit dem Normalweg verbindet. Dieser führt aber weitläufig über einen extrem spaltenreichen Gletscher, der nach Neuschneefällen jetzt nicht einmal eine frische Spur hat. So ist der direkte Grat der Erstersteiger die einzige Chance für einen Alleingänger, auf dem noch zwei weitere Seilschaften mit mir unterwegs sind. Mit zwei Eisgeräten steige ich voll konzentriert den Anderen bald weit voraus, die ja noch sichern müssen. Im weiteren Verlauf passiere ich felsiges Gelände mit leichten Dreierstellen, aber ein Ausrutschen wäre hier in jedem Fall verhängnisvoll.
Als ich am Kreuzungspunkt mit dem Normalweg ankomme, sehe ich, dass die Seilschaft auf dem Normalweg gar nicht bis hierhergekommen und umgekehrt ist, da die alte Spur von einer Lawine überschüttet wurde. Die restlichen 400 Höhenmeter bis zum Gipfel erscheinen mir solo zu gefährlich – deshalb warte ich auf die Gratseilschaften hinter mir und ich habe die Gelegenheit, die wilde Landschaft zu genießen und zu fotografieren. Bis die Anderen eintreffen dauert es nochmal 2 Stunden – und alle entscheiden sich dann aus Vernunftgründen gegen einen Gipfelversuch. Gemeinsam steigen wir über den Normalweg ab, was nochmal einige Stunden erfordert. Als wir endlich wieder die Hütte erreichen, ist es erneut Mitternacht – und die nächsten Gipfelaspiranten stehen gerade auf. Wir waren also volle 24 Stunden ohne echte Ruhepausen unterwegs. Jetzt verstehe ich auch, warum aus Neuseeland so gute Bergsteiger kommen wie Edmund Hillary oder Rob Hall.
Am nächsten Morgen bleibt das Wetter zum Glück schön, sodass ich auch wieder hinunterfliegen kann, da ich ja nur noch zwei Tage bis zum Rückflug habe. Die sind schnell vergangen und nach einem 24-stündigen, fast Nonstop-Flug lande ich wieder in München. Eine Reise ohne Sylvester-Party, aber mit großartigen Abenteuern!