Der Aconcagua (6959 m) gilt unter (Expeditions-) Bergsteigern als nicht sehr attraktiver Berg, obwohl er unterschiedliche Routen mit allen Schwierigkeitsgraden bietet. Zwar ist er der höchste Berg (Süd-) Amerikas, der westlichen und südlichen Hemisphäre, und sogar der höchste Gipfel außerhalb des Himalayas. Aber durch seinen vulkanischen Ursprung gilt er auch zu Recht als mächtiger Schutthaufen.
Obwohl er technisch relativ einfach ist und sogar in rund 6000 Meter Höhe ein Grab aus der Inkazeit gefunden wurde, ist dieser vielbesuchte Modeberg andererseits wegen seiner großen Höhe, den oft starken Winden und der gleichzeitigen Kälte keineswegs zu unterschätzen.
Deshalb hat er mich bisher noch nicht sonderlich interessiert und stand auch nie auf meiner Wunschliste. Im Vergleich zu den anderen Bergen der "Seven Summits" hat der Aconcagua in seiner Umgebung auch weder eine exotische Landschaft noch alte Kulturen zu bieten. So mußte dieser für mich eher unattraktive Berg auch bis zuletzt warten und erscheint mir nun mehr als lästige Pflichtübung statt als krönender Abschluß einer großen Kür. So berichte ich auch über diesen "letzten Gipfel" aus der kritischen Sicht des abgeklärten "Seven Summiters" und nicht als der begeisterte junge Novize, der das erste Mal richtige Höhenluft schnuppert. Auf Grund all dieser Umstände gerät selbst dieser Artikel über den eher "unscheinbaren" Berg ähnlich mühsam wie das Höhersteigen an den endlosen Schutthängen dieses Bergriesen.
Zu einer kommerziellen Expedition habe ich dieses Mal überhaupt keine Lust, sondern ich möchte wieder einmal eine Reise selbst organisieren und mir dabei die Besteigung des Berges so interessant als möglich gestalten. Damit fällt als erstes die Normalroute aus - sie ist mir schlichtweg zu langweilig, und in der Hauptsaison zwischen Weihnachten und Neujahr ist dieser Anstieg noch dazu ziemlich überlaufen. Da die Aconcagua-Südwand mir jedoch zu schwierig und vor allem auch zu gefährlich ist, bleibt mir als einzige sinnvolle Alternative der Anmarsch über die Plaza Argentina zum Polengletscher, und von dort aus der Aufstieg auf der Normalroute oder (eventuell schwieriger) direkt zum Gipfel. Außerdem möchte ich den Berg zusätzlich umrunden und überschr
Mein zweiter Plan ist, mit einigen jungen und befreundeten Bergsteigern eine Art Trainingsexpedition zu gestalten und ihnen dabei meine Expeditions-, Höhen- und medizinischen Erfahrungen zur Verfügung zu stellen. So buche ich gleich einige Sitzplätze für den Flug nach Südamerika - doch je näher der Termin des Abflugs herankommt, desto mehr Probleme tauchen auf: Einer nach dem anderen sagt wegen beruflicher Zwänge oder anderer Prioritäten ab. Kurz vor dem Abflug bleibe nur ich von der ursprünglich geplanten Gruppe übrig und ziehe so wieder allein los wie schon vor zwölf Jahren, als ich mit dem Kilimandscharo meinen ersten Gipfel der "Seven Summits" besteige.
Wie üblich arbeite ich in der letzten Nacht vor dem Abflug durch: erstens, um mit dem Packen überhaupt fertig zu werden, zweitens, um im Flugzeug besser schlafen zu können und drittens, um meine innere Uhr für den "jet-lag" wieder auf Null zu setzen. Diesmal wähle ich meine Ausrüstung besonders sorgfältig aus: Alles Wichtige muß dabei sein, aber darf auch nicht zu schwer werden, denn für meine geplante Solo-Überschreitung muß ich alles allein tragen - eine neue Herausforderung! Doch meine jahrelange Übung und Routine hilft mir, alles in einer Nacht zusammenzustellen. So habe ich beispielsweise nur drei Paar Schuhe dabei: Sandalen für die die heißen Tage im Hochland sowie Trekking-Halbschuhe und Plastikstiefel zum Bergsteigen.
Zum ersten Mal werde ich in meinem Zielland am Flughafen erwartet, da mich meine argentinischen Verwandten aus Buenos Aires abholen. Aber noch am gleichen Abend fliege ich über die Andenkette nach Santiago de Chile weiter, wo ich nach drei Tagen zum ersten Mal wieder in einem Bett schlafen kann - was für ein Luxus!
Doch mein Nachholbedarf an Schlaf ist noch längst nicht gedeckt, so daß ich am nächsten Tag bei der Weiterreise in einem Bus auf der Rücksitzbank weiter vor mich hindöse. Richtig wach werde ich erst an der chilenisch-argentinischen Grenze, wo es nach der Schwüle des Tieflandes endlich kühler und angenehmer wird.
Ein paar Kilometer weiter steige ich bei Puente del Incas aus dem Bus und habe den Ausgangspunkt des Berges erreicht. Doch nun stehe ich erst einmal ziemlich planlos und verlassen herum. Bisher hatte ich noch gar nicht die Zeit, mir einen genauen Plan für meine Besteigung zu überlegen. Schließlich habe ich "nebenbei" noch einen bürgerlichen Beruf, bei dem ich mich bestimmt nicht über mangelnde Arbeit beklagen kann, sowie einige andere, zeitintensive Beschäftigungen und ehrenamtliche Verpflichtungen. So studiere ich zunächst meine mitgebrachten Führer und Karten. Ich habe nichts vorgebucht, sondern wollte flexibel direkt vor Ort entscheiden. Daher nehme ich es auch notgedrungen in Kauf, daß ich in den nächsten zwei Tagen kein Muli für meinen geplanten Anmarsch auftreiben kann. Zudem muß ich für die erforderliche Besteigungsgenehmigung sowieso noch nach Mendoza fahren. Trotzdem bin ich froh, daß ich mir hier vorerst schon einen Überblick verschafft habe und den Transport zum Basislager organisieren konnte. Mit dem gut englisch sprechenden Sohn des Aconcagua-Veteranen Grajales fahre ich abends aus der kargen Gebirgslandschaft in die pulsierende Provinzhauptstadt Mendoza.
Hier komme ich zum ersten Mal auf dieser Reise zur Ruhe und fange an, meinen Urlaub zu genießen. Mit ihren zahlreichen alten Bäumen bietet diese südeuropäisch anmutende Stadt viel Atmosphäre und auch angenehmen Schatten in der Sommerhitze. Wie ich anerkennend bestätigen kann, sollen hier auch die schönsten Frauen des Landes leben. Beim Anblick der vielen sommerlich leicht bekleideten Schönheiten freue ich mich, dem naßkalten Deutschland entkommen zu sein. Hier das pulsierende Leben auf der Straße - dort der vorweihnachtliche hektische Trubel!
Gelassen fahre ich zwei Tage später mit meiner Genehmigung und zusätzlichem Proviant wieder ins graue, steinige Gebirge zurück. In Puente del Inca mache ich noch eine einsame Wanderung auf den alten Geleisen der längst aufgegebenen Gebirgsbahn und besuche den Bergsteigerfriedhof vom Aconcagua. Ich bin erstaunt, wieviel Menschen hier ihr Leben verloren haben; später erfahre ich, daß allein im Vorjahr fünfzehn Bergsteiger den Tod fanden - mehr als am Mount Everest in Katastrophenjahren! Für mich ist diese Begegnung mit dem Bergtod jedenfalls eine Warnung, gerade als Alleingeher kein unnötiges Risiko einzugehen.
Zusammen mit einer französisch sprechenden Bergsteigergruppe aus Genf und ihrem Bergführer laufe ich am nächsten Morgen zum Aconcagua los. Die zwei berittenen Treiber sind mit ihren Mulis natürlich viel schneller als wir. Mein Gepäck macht mit 30 Kilogramm gerade eine halbe Traglast aus, aber bezahlen muß ich natürlich für eine ganze. An unserem ersten Lagerplatz Las Leñas feiern wir den Weihnachtsabend: Die Schweizer laden mich zu einem Essen mit Lachs unter freiem Himmel ein, und ich spendiere eine Weinflasche aus dem Flugzeug.
Später treffen noch zwei Amerikaner auf dem Rückweg vom Basislager ein. Der eine von ihnen hat die Höhe des Basislagers nicht vertragen - trotz mehrtägiger Akklimatisation in 4200 Meter Höhe ließen seine ständigen Kopfschmerzen nicht nach, so daß er sich schließlich zur Umkehr entschließen mußte - poor boy! Mir jedoch ist das Basislager eher zu niedrig! Da ich ja weiß, daß ich die Höhe gut vertrage und mich rasch akklimatisieren kann, möchte ich mich dort nur relativ kurz aufhalten und mehr Zeit im ersten Hochlager auf 5000 Meter verbringen. Wenn ich den beiden nicht verraten hätte, daß dies mein "siebter Gipfel" wird, hätten sie mich sicherlich für verrückt gehalten. Die Amerikaner erzählen mir von den verschiedenen Gruppen am Berg, unter anderem auch, daß ich nicht der einzige Alleingänger bin, sondern auch eine Kanadierin den Berg solo besteigen will. Na, sowas - ich beschließe jedenfalls, diese Frau weiter oben kennenzulernen.
Am nächsten Tag müssen wir beim Weitermarsch mehrfach den eiskalten Fluß überqueren. Ohne Schuhe im Geröll ist das ganz schön mühsam, und meine Füße sind am anderen Ufer bereits ziemlich gefühllos, nachdem ich längere Zeit im Wasser stehend versuche, mit meinem neuerworbenen Fisheye-Objektiv Selbstporträts mit Umgebung zu fotografieren. Die Schweizer sind daher bald weit voraus, ich trotte gemütlich als letzter hinterher, auch um nicht den Eindruck zu erwecken, ich würde mich als fünftes Rad am Wagen aufdrängen wollen.
Am dritten Tag wird der Aufstieg steiler und interessanter. Vom Hauptfluß zweigt ein zunächst steiles Bachbett in ein weites Hochtal ab - hier ist zum erstenmal das gewaltige Aconcagua-Massiv mit dem Polengletscher zu sehen, der 1937 zum ersten Mal bestiegen wurde. Im Basislager wartet bereits mein Gepäck auf mich - und ab jetzt bin ich mein eigenes Lasttier.
Schon am nächsten Morgen laufe ich mit der ersten Ladung Ausrüstung und Verpflegung los. Der Aufstieg führt über einen geröllübersäten Gletscher und dann noch mühsamer über einen steilen Schutthang zum ersten Hochlager auf knapp 5000 Meter neben einem kleinen Bach. Ich deponiere mein Gepäck auf einem eingeebneten Zeltplatz und unterhalte mich ein wenig mit anderen Gipfelaspiranten, bevor ich wieder absteige.
Im Basislager verbringe ich noch eine komfortable dritte Nacht und packe am nächsten Morgen meine restliche Ausrüstung. Um mein nasses Innenzelt zu trocknen, stelle ich es noch aufgebaut mit dem feuchten Boden nach oben in die Sonne. Als ich jedoch vom Geschirrsäubern am Bach zurückkomme, ist es spurlos verschwunden. Weit und breit ist nichts zu sehen - ich stehe vor einem unlösbaren Rätsel, bis mir ein anderer Bergsteiger erzählt, er habe ein Zelt in Richtung eines Gletschersees vorbeifliegen sehen. Ich suche in der angegebenen Richtung, bis ich es tatsächlich in einer Mulde, etwa 250 Meter von meinem Nachtplatz, finde. Ein heftiger Windstoß hatte es über den schuttbedeckten Gletscher geblasen - ein Wunder, daß es dabei trotz des steinübersäten Geländes überhaupt nicht beschädigt wurde, nicht einmal ein kleiner Riß im Zeltstoff ist zu sehen! Da hier natürlich ein Zelt für den Gipfelerfolg unerläßlich ist, beschließe ich, in Zukunft etwas vorsichtiger zu sein.
Im Basislager ginge es notfalls auch ohne Zelt. So liegt ein junger Amerikaner, der mit Knieschmerzen aufgeben mußte, tagelang unter freiem Himmel, während seine beiden Freunde mit dem einzigen Zelt der Gruppe zum Gipfel unterwegs sind. Ich untersuche sein lädiertes Knie, stelle eine Meniskusverletzung fest und berate ihn über das weitere Vorgehen zu Hause. Umgekehrt zeige ich ihm eine einfache Methode, wie er meinen verspannten Rücken wieder einrenken kann. Ausgerechnet ich als Orthopäde habe einige Tage lang Kreuzschmerzen, so daß ich sogar einige Schmerz- und Muskelentspannungstabletten einnehme. Vor allem morgens laufe ich einige Tage steif nach vorn gekrümmt wie ein alter Mann herum, während ich später beim Gehen mit dem Rucksack keine Probleme mehr habe. Wenn das meine Arzthelferinnen und Patienten wüßten!
Diesmal nehme ich unterhalb des ersten Hochlagers einen anderen Aufstiegsweg über den Gletscher, obwohl ich aus Bequemlichkeit nach wie vor mit meinen leichten, aber stabilen Trekking-Halbschuhen gehe, und vermeide so den mühsamen, steilen Schotterhang. Im Hochlager lerne ich dann die sympathische Kanadierin Rosemary kennen, die ebenso wie ich nach Absage von Freunden alleine am Berg unterwegs ist. Zum Gepäcktransport ist sie zwischen Basislager und dem ersten Hochlager schon dreimal aufgestiegen und noch immer für den Gipfel motiviert, obwohl sie zwischendurch sogar im Hochlager krank war.
Bei anderen sieht es dagegen oft schon weniger gut aus. So liegt z.B. der Amerikaner Eric mit seinem Partner dauernd im Clinch, da die beiden völlig verschiedene Pläne haben und sich über keine gemeinsame Vorgehensweise einigen können. Auf jeden Fall haben sie nach drei Lastentransporten viel zu viel Gepäck hier oben, und Eric trägt nach dieser Erkenntnis gleich wieder einen vollen Rucksack mit überflüssiger Ausrüstung ins Basislager zurück, wo er sowieso seinen Schlafsack vergessen hat.
Ich wundere mich bald nicht mehr, wieviel völlig unerfahrene Bergsteiger hier unterwegs sind - hauptsächlich junge Amerikaner, die zum ersten Mal in ausländischen Gebirgen unterwegs sind und keinerlei Höhen- und Expeditionserfahrung mitbringen. So auch die beiden 20-jährigen Dan und Dave, die ohne Muliunterstützung ihre ganze schwere Ausrüstung selbst ins Basislager getragen haben - eine stolze, aber nicht gerade kluge Leistung, denn dabei haben sie sich an Schulter, Rücken und Hüften die Haut wundgescheuert. Sie haben im Gegensatz zu mir zu viel Gepäck und vor allem zu schwere Verpflegung dabei, u.a. Marmelade und Erdnußbutter in Gläsern. Dafür haben sie andererseits keine Skistecken mitgenommen - gerade in großer Höhe und mit schwerem Gepäck einer der wichtigsten Ausrüstungsgegenstände. Ihre jugendliche Unerfahrenheit und Planungsfehler machen sie dafür mit einer großen Motivation und Kondition wieder wett. Da sie nett und wißbegierig sind, gebe ich ihnen noch einige dankbar aufgenommene Ratschläge mit auf den Weg. Vielleicht werden aus ihnen doch noch einmal große Bergsteiger.
Als Alleingänger suche ich auf dieser Tour gerne den Kontakt zu anderen Bergsteigern und komme auch mit fast allen Individualreisenden ins Gespräch - während die größeren kommerziell geführten Gruppen eher mit sich selbst beschäftigt sind. Unterwegs ertappe ich mich dabei, daß ich als Ausgleich zum Alleinunterwegssein häufig Selbstgespräche mit mir führe, oft sogar in Englisch, der üblichen Konversationssprache. Zumindest kürze ich mir dadurch die langweiligen Etappen zwischen den Hochlagern ab.
Nach der ersten Hochlagernacht wollte ich eigentlich einen Ruhetag zum Akklimatisieren einlegen. Mit leichtem Gepäck steige ich aber dann doch gleich höher, um mir zumindest einen Überblick über den Weiterweg zu verschaffen. Mir geht es dabei jedoch so gut, daß ich völlig ungeplant am zweiten Hochlager in 5800 Meter Höhe ankomme, wo ich neben einigen anderen Bergsteigern wieder Rosemary treffe. Da ich inzwischen selbst nur zu gut weiß, wie mühsam es ist, ein modernes Leichtzelt mit all seinen zu verspannenden Zeltstangen und Verschnürungen ganz allein aufzubauen, helfe ich ihr dabei, bevor ich über steile Schutthänge wieder nach unten zu meinem Zelt eile.
Da ich mich noch besser an die Höhe gewöhnen muß, beschließe ich, statt eines Ruhetages eine Akklimatisierungstour auf den benachbarten Aussichtsgipfel Cerro Amighino zu machen. Die über 800 Höhenmeter machen mir keine Schwierigkeiten, aber dafür ist der Aufstieg ohne Weg und Steg über steile und lockere Geröllhänge und brüchige Gratabschnitte sehr mühsam. Unter dem Gipfelaufbau muß ich sogar richtig klettern, bis ich am höchsten Punkt völlig alleine eine hervorragende Aussicht auf den direkt gegenüberliegenden Aconcagua und die weitere Umgebung genießen kann.
Auch wenn der Abstieg genau so beschwerlich ist, freue ich mich doch über diese geglückte Testtour und meine gute Verfassung. Obwohl ich seit dem Sommer kaum im Gebirge unterwegs war und aus berufsbedingtem Zeitmangel und wohl auch aus Faulheit nicht trainiert habe, geht es mir konditionell und von der Höhe her erstaunlich gut - vermutlich deshalb, weil ich in den vergangenen zwölf Monaten an drei größeren Bergfahrten über 5000 Meter teilgenommen habe. Und wenngleich ich schon etwas expeditionsmüde bin, soll der Aconcagua der Abschluß dieses Ausnahmejahres bilden. Da dieser Berg aber bergsteigerisch und landschaftlich lange nicht soviel bieten kann wie meine vorherigen Touren, versuche ich diesmal so schnell wie möglich den Gipfel zu erreichen, um hinterher noch Zeit für Besichtigungen zu haben. Und so schleppe ich bereits am nächsten Morgen mein ganzes restliches Gepäck mühsam weiter bergauf bis zum zweiten Hochlager.
Am Nachmittag kommen die beiden jungen Amerikaner Dan und Dave vom Gipfel zurück. Sie sind halb verdurstet, da sie nicht einmal Thermosflaschen dabei haben und ihre Getränke in den Plastikflaschen völlig gefroren sind. So koche ich ihnen jede Menge Tee und Suppen, während sie ihr Zelt zusammenpacken, um noch am gleichen Tag weiter abzusteigen. Der Abschied von den beiden sympathischen Jungen ist herzlich - danach bin ich zunächst wieder alleine im Hochlager.
Am späten Nachmittag taucht völlig erschöpft Rosemary auf. Sie ist - entsprechend ihrer selbstgewählten Zeitvorgabe - bei schlechtem Wetter nur knapp 50 Meter unter dem Gipfel umgekehrt. Ich weiß nicht, was ich mehr bewundern soll: den Alleingang oder den konsequenten Entschluß zum Abstieg. Ich begrüße sie mit heißem Tee und Suppe und kann so ihre Lebensgeister wieder wecken. Schon den ganzen Tag war das Wetter schlecht und der Gipfel meist in Wolken - und jetzt tobt sich auch noch ein Gewitter über uns aus, und in kürzester Zeit liegen zehn Zentimeter Schnee ums Zelt. Da heute gerade Silvesterabend ist, lade ich Rosemary in mein Zelt zum Festessen ein. Trotz der Enge wird es ein gemütlicher und denkwürdiger Abend voller Erzählungen - eine der schönsten Erinnerungen während meiner ganzen Expedition. Es ist reiner Zufall, daß sich ausgerechnet die beiden Einzelgänger auf dieser Bergseite am Silvesterabend alleine im Hochlager treffen. Vor dem Schlafengehen genießen wir vor den Zelten noch eine klare Nacht mit hellem Mondschein, der die frisch verschneite Umgebung in ein zauberhaftes Licht taucht. Als ich Rosemary um Mitternacht in Richtung ihres Zeltes "Happy New Year!" zurufe, schläft sie bereits tief und fest.
Nach dem Ausschlafen und einem gemeinsamen Frühstück trennen sich unsere Wege: Rosemary steigt weiter ins Basislager ab, während ich von hier aus meine geplante Überschreitung zum Normalweg hinüber machen möchte. Meinen ursprünglichen Gedanken an einen direkten Aufstieg über den Polengletscher habe ich inzwischen aufgegeben. Dieser Aufstieg scheint längere Zeit nicht mehr gemacht worden zu sein, und im oberen Teil liegt jetzt relativ viel Schnee, der ziemlich mühsame Spurarbeit erwarten läßt.
Statt dessen schleppe ich nun meine ganze Ausrüstung auf einmal zum Normalweg hinüber, da ich keine Lust habe, diese Querung zweimal zu gehen. Sie ist unangenehm genug: Am frisch verschneiten Gletscher komme ich nicht in meinen üblichen Gehrhythmus, da ich immer wieder unvorhergesehen im Schnee teilweise bis zu den Knien einbreche. Ziemlich ausgelaugt erreiche ich Lagerplatz "White Rocks" in 6000 Meter Höhe. Dieser ziemlich nach Schwefel riechende Lagerplatz liegt etwas abseits der Normalroute und wird daher wenig benutzt - nur zwei verlassene Zelte stehen hier oben.
Als ich nach dem obligatorischen Zeltaufbau meinen Benzinkocher benutzen will, funktioniert dieser nicht mehr - ausgerechnet im letzten Lager unter dem Gipfel! Obwohl ich mit diesem Kochertyp seit achtzehn Jahren noch nie ernsthafte Probleme hatte, gelingt es mir diesmal trotz aller Mühe und Erfahrung nicht, ihn zu reparieren. Ohne die dringend notwendige Flüssigkeit sehe ich meine Gipfelchancen schon ziemlich auf Null absinken. Schließlich gehe ich zum benachbarten Zelt, wo jetzt drei erschöpfte Amerikaner nach dem Gipfelgang ohne Essen oder Trinken in den Schlaf gesunken sind. Ihr Führer Peter hilft mir mit einer Zange aus und gemeinsam gelingt es uns, den Kocher komplett zu zerlegen und zu reinigen, so daß er wieder einwandfrei funktioniert. Peter erzählt mir dabei von ihrer Gipfelbesteigung: In der Nacht zuvor konnten sie kaum schlafen, da ein völlig erschöpfter und um Hilfe schreiender Einzelgänger um zehn Uhr nachts ohne Licht im Abstieg nicht mehr weiterkam und sie ihn nach Bergung in ihr Zelt aufnahmen. Dadurch kam die Gruppe am nächsten Morgen viel zu spät los und mußte nach dem Neuschneefall zu Silvester auch noch alles selber spuren.
Auch heute kommen wieder einige Nachzügler sehr spät am Abend und viel zu langsam vom Gipfel herunter. Man erkennt schon von weitem, daß einige von diesem Berg völlig überfordert sind und hier eigentlich gar nichts zu suchen haben - ein generelles Problem an vielen hohen und bekannten Bergen und ganz speziell hier am Aconcagua!
Bei besten Verhältnissen kann man zwar diesen fast 7000 Meter hohen Berg technisch relativ problemlos nur mit Trekkingschuhen und Skistecken besteigen. Aber wehe, es gibt einen Wettersturz, Schnee und Eis oder die gefürchteten eiskalten Höhenstürme, die schon einige Gipfelstürmer regelrecht vom Berg heruntergeblasen und selbst erfahrene Expeditionsbergsteiger zur Umkehr gezwungen haben. Der Aconcagua ist für bestimmte, überehrgeizige Wanderer und Trekker ein prestigeträchtiger Modeberg geworden, genauso wie der Mount Everest für sich selbst überschätzende Höhenbergsteiger beziehungsweise Möchtegern-Messner mit viel Geld. Für die meisten Gipfelaspiranten ist es der höchste Berg ihrer Karriere, oft ohne vorherige Erfahrung an einem anderen Fünftausender oder gar Sechstausender. So wundert es nicht, daß sehr viele den Gipfel nicht erreichen und die Erfolgsquote unter 20 % liegen soll.
Peter hat zum Glück mehr Erfahrung als die meisten Gipfelaspiranten hier - er war bereits auf dem Mount McKinley in Alaska. Im Verlauf unseres Gesprächs finden wir heraus, daß wir nicht nur im gleichen Jahr und Monat an diesem kältesten Berg der Erde unterwegs waren, sondern uns dort sogar getroffen haben. Während wir damals gut ausgerüstet eine Skiüberschreitung am Mount McKinley durchführten, kamen uns auf der sehr einsamen Nordseite des Berges drei noch unerfahrene junge Amerikaner entgegen, die den Gipfel vor allem aus Proviantmangel nicht schafften und - bereits ziemlich ausgehungert - sehr froh über unsere geschenkten Essensvorräte waren. Peter war einer von ihnen - was für ein Zufall, daß wir uns nach fast zehn Jahren ausgerechnet hier wieder treffen! Noch dazu ist er erst der Zweite, mit dem ich heute überhaupt rede. Gut gelaunt über dieses zufällige Wiedersehen krieche ich nach einem stimmungsvollen Sonnenuntergang in meinen warmen Schlafsack.
Frühmorgens verlasse ich mein Zelt für den Gipfelanstieg, und trotz Kälte und Wind komme ich zunächst gut voran. Irgendwann bin ich sogar an vorderster Stelle und muß im Schnee frisch spuren. Kurz darauf werde ich bei einer ausgiebigen Fotopause von zwei Japanern überholt, die ich danach nicht mehr einholen kann. Ich tröste mich mit dem Gedanken, daß ich heute erst zehn Tage am Berg unterwegs und noch immer nicht voll akklimatisiert bin. Aus dem gleichen Grund schaffe ich es im steileren Gipfelbereich auch nicht mehr, wie üblich langsam und gleichmäßig durchzugehen, sondern ich muß tatsächlich alle 15-20 Meter rasten, was mich schon etwas ärgert.
Trotzdem komme ich um die Mittagszeit bei noch guten Sichtverhältnissen am Gipfel an - jetzt ist meine persönliche Sammlung der "Seven Summits" komplett. Aber ich schwebe deswegen keineswegs im siebten Himmel und erlebe hier am Gipfel weder ein besonderes Glücksgefühl noch die vielfach beschriebene Leere nach Erreichen eines großen Zieles, sondern bin einfach froh, daß ich nicht mehr weitersteigen muß, daß ich rasten und fotografieren kann. Diesmal denke ich sogar ausnahmsweise daran, mir ein paar Steine vom Gipfel als Erinnerung mitzunehmen.
Beim Abstieg - bald in den Wolken - begegnen mir noch jede Menge Gipfelaspiranten, die immer erschöpfter und zudem schlechter ausgerüstet sind, je tiefer ich komme. Schon ziemlich weit unten stoße ich auf zwei Japaner, von denen einer ohne Steigeisen bereits dreißig Meter einen Steilhang hinuntergerutscht ist und größte Schwierigkeiten hat, wieder den Weg hinaufzusteigen. Da es für einen Gipfelversuch sowieso schon viel zu spät und gefährlich ist, versuche ich eindringlich, sie zur Umkehr zu überreden. Ob es etwas genützt hat, weiß ich nicht, denn ich steige danach zügig weiter zu meinem Lagerplatz ab.
Wie schön wäre es jetzt, hier in meinem Zelt einfach in meinen Schlafsack zu kriechen und zu schlafen. Da ich jedoch noch weiter in tiefere und wärmere Regionen absteigen will, gönne ich mir nur eine kleine Pause zum Essen, Trinken und für ein kurzes Nickerchen, wobei draußen schon wieder ein neuer Schneesturm einsetzt. Mühsam verpacke ich mein nasses Zelt und steige mit meiner ganzen Ausrüstung weiter ab. Obwohl es später zu schneien aufhört, begegnet mir kein Mensch mehr. Alle anderen Bergsteiger im Auf- oder Abstieg haben sich in ihre Zelte verkrochen, während ich allein nach unten stapfe. Am Lagerplatz Nido di Condores frage ich vorsichtshalber an einem verschlossenen Zelt nach dem weiteren Abstiegsweg, den ich ja noch nicht kenne. Dieser zieht sich noch ganz schön in die Länge, und selbst als ich schon das weit verstreute Basislager von oben entdecke, dauert es noch lange, bis ich es etwas müde erreiche. Na ja - schließlich sind es vom Gipfel bis hierher immerhin 3000 Meter Abstieg!
Im Basislager Plaza de Mulos stehen mehr als 100 Zelte in einer regelrechten Stadt herum, kleine und große, ein- und mehrfarbige, kommerzielle und private, Ess- und Toilettenzelte, Ausrüstungslager und Abfallhaufen wie in einem Goldgräberdorf aus dem vorigen Jahrhundert, nur moderner und bunter. Die rauhen Sitten sind allerdings geblieben: Als der Amerikaner Peter hier nicht aufpaßt, werden ihm Kamera, Geld und Paß geklaut - wie ich später erfahre, leider kein Einzelfall mehr!
Nach der Einsamkeit der letzten Tage fühle ich mich in diesem Rummel etwas deplaziert. Trotzdem genieße ich die Vorteile der Zivilisation und bestelle mir zur Feier des Tages ein gutes Abendessen in dem Küchenzelt einer Agentur. Zum ersten Mal sitze ich wieder an einem (Klapp-) Tisch, muß nicht mehr selbst kochen und trinke literweise Saft. Jetzt kommt auch immer mehr Freude und Genugtuung über die eigene Leistung und über den schnellen Gipfelerfolg auf, und natürlich erst recht über die jetzt komplette Sammlung der "Seven Summits", worauf ich schon ein wenig stolz bin. Als die Wolken beim Sonnenuntergang den Aconcagua teilweise freigeben, ist der in roten Farben leuchtende Gipfelaufbau im letzten Abendlicht für ein paar Minuten ein herrliches Naturschauspiel. Zum ersten Mal empfinde ich die Größe und Majestät des Berges - und versöhne mich mit dem vorher ungeliebten Gipfel!
Am nächsten Morgen schlafe ich erst einmal so richtig aus, frühstücke gemütlich und fotografiere das Treiben im Basislager. So komme ich erst zu Mittag los, habe aber nur wenig Gepäck zu tragen, da ich den überwiegenden Teil wieder auf einem Muli transportieren lasse. Auf dem langen Weg zurück begegnet mir plötzlich eine Gruppe mit bekannten Gesichtern: Es sind die Belgier, die mit uns zusammen vor genau zwölf Monaten in der Antarktis waren, wieder unterwegs mit zwei Bergführern, Kameramann und ihrem ausgeflippten Musikfreak, der diesmal sogar eine Gitarre ins Basislager mitträgt. Es gibt ein großes Hallo - was für ein unverhoffter Zufall!
Der Weg talaus zieht sich ziemlich in die Länge - doch diesmal habe ich ein erneutes Ziel vor Augen: Ich habe mich in Puente del Inca mit Rosemary verabredet, und ich möchte nicht zu spät zum Bergsteiger-Rendezvous kommen. Endlich habe ich es geschafft: Ich bin nach nur elf Tagen wieder zurück am Ausgangspunkt und habe den Aconcagua ohne große Probleme bestiegen, umrundet und überschritten. Jetzt bleiben mir sogar noch einige Tage Zeit für "richtigen" Urlaub mit Besichtigungen, Entspannen und Genießen.
Da der Aconcagua außer seiner Höhe landschaftlich und alpinistisch nicht allzuviel bietet, liegen die Höhepunkte dieser Reise diesmal auf einer ganz anderen Ebene. Es lohnt sich meiner Ansicht nach nicht, mur zum Bergsteigen und um des Gipfels willen dorthin zu fahren. Am meisten sind mir die Begegnungen, die Gespräche mit anderen Bergsteigern und das zufällige Wiedersehen alter Bekannten in Erinnerung geblieben.
Über die Expedition hinaus besuche ich mit Rosemary noch das grandiose Naturschauspiel der Iguazu-Wasserfälle, ein vollkommener Kontrast und eine ideale Ergänzung zum kargen Gebirge. Die am Berg begonnene Freundschaft findet sogar noch eine Fortsetzung, als Rosemary bald darauf beruflich für drei Monate nach Deutschland kommt und wir eine schöne Zeit mit einigen Bergtouren und Reisen zusammen verbringen. Und dies ist zweifellos das schönste Ergebnis dieser Expedition.